Wochenthema: Leben im Mittelalter

Lesetext: Die Pest in der Stadt

Timm ist ein zwölfjähriger Bauernjunge, der im Mittelalter lebt. Nach dem Tod seines Vaters muss er die Heimat verlassen, gerät in einen Krieg und kommt schließlich als Knecht in einer Apotheke unter. Der Apotheker Wapenhans ist ein geldgieriger Betrüger und ein grober Herr.

„Hol die getrockneten Fliederbeeren vom Boden, hurtig und keinen Müßiggang." Dass dich die Krätze fressen möge, dachte Timm, als er die Wendeltreppe hinaufturnte. Auf halbem Wege verhielt er. Unten war ein Jammern ausgebrochen. Er rutschte ein Stück zurück und sah zwei heftig weinende Frauen, die den Apotheker dringend um eine Arznei anflehten, weil da ein Mann in der Kirche mitten in der Menge umgefallen sei wie tot, und kein Arzt in der Nähe.
Keine Stunde später kam wieder jemand, dann noch einer und noch zwei, und alle erzählten das gleiche. Der Apotheker befahl, griff selber mit zu, mixte, wog, strich die Münzen ein, und als die Kunden aus der Tür waren, rieb er sich vergnügt die Hände und sagte: „Das sieht mir fast nach einer Pestilenz aus, gute Zeit für Ärzte und Apotheker. Da wollen wir nur rasch genügend Räucherwerk bereiten und Mittel gegen das Fieber und Zugpflaster."
Als der Abend kam, konnten sie die Apotheke nicht schließen, weil immer neue Menschen Ängste und Gerüchte hereintrugen, Medizin verlangten und vor allem Wundermittel und Zauberkräutlein,Amulette aus Totenknochen.
Der Apotheker war wie im Rausch. Der Junge musste die letzten Ecken und Winkel auskramen und dies und das zusammenmischen, und Herr Wapenhans gab zu allem seinen Segen. Auch draußen in den Gassen blieb die Nacht lebendig. Kapuzenmänner eilten vorüber, schwenkten Räucherkannen und verstreuten Salz. Eine Prozession singender Mönche zog vorbei, ihre Kerzen flackerten, dann rumpelte eilig ein klobiger Wagen  dahin wie eine Flucht. Gegen Morgen schlief Timm übermüdet ein, Kopf und Arme neben der Waage auf die Holzplatte gelegt. Er träumte wirres Zeug.
Dann wurde er derb geweckt. Ein Mann stand vor dem Tisch. Er war noch verhältnismäßig jung an Jahren, hatte sanfte Augen, trug das würdevolle Kostüm der Gelehrten, ein bis zu den Füßen reichendes dunkles Gewand mit übergezogenem braunem Kapuzenkragen. Herr Wapenhans dienerte vor ihm herum. „Ich bin Julius Fabricius", sagte der Fremde. „Könnt Ihr mir ein schwieriges Rezept bereiten?"
Aber gewiss könne er das, erwiderte der Apotheker diensteifrig, studierte mit wichtiger Miene das Papier, das ihm der Arzt vorhielt, ließ dann Timm wie auch den Provisor Trab laufen nach diesen und jenen Ingredienzien, durchblätterte einige Bücher und machte sich Notizen. „Man redet von einer Pestilenz, gelehrter Mann?" fragte er zwischendurch.
Doktor Fabricius zuckte mit den Schultern, sagte, das sei überhaupt nicht gewiss. Die Leute sähen in ihrer bedauerlichen Unwissenheit leider immer noch jede seuchenhafte Erkrankung als eine Pestilentia an und machten in Verwirrung und Entsetzen das Übel nur noch größer. Er sah Timm auf die Hände, wie der sorgfältig einige Kristalle abwog und sie dann vorsichtig im Mörser zerrieb. „Euer Lehrbub, Herr Apotheker?" „Ein junger Hausknecht, gelehrter Mann. Er geht mir zur Hand, wenn die Arbeit drängt - so wie eben jetzt." [...]
Auch am zweiten Abend kam Timm nicht ins Bett. Die Wallfahrt der verängstigten Menschen in die Apotheke ließ nicht nach. Fiebermittel und Räucherwerk waren neben dem wertlosen Zauberkram am meisten gefragt. Herr Wapenhans ließ seinen Gehilfen freie Hand, er zählte das üppig hereinfließende Geld in einen eisernen Kasten ein und behängte ihn mit mächtigen Schlössern.
Als Timm mitten aus dem Schlaf der Erschöpfung irgendwann zwischen Mitternacht und Morgen erwachte, hörte er ein erbarmungswürdiges Stöhnen. Er schaute sich verwundert um. Der Provisor schlief im Lehnstuhl des Apothekers, den Kopf zurückgebeugt, mit offenem Munde. Wieder dieses Stöhnen. Da sah Timm Herrn Wapenhans in merkwürdig gekrümmter Stellung ohnmächtig am Boden liegen, seine Glieder zuckten.
„Henke!" schrie Timm. „Da!" Der Provisor hustete, kam zu sich, starrte, schlug ein Kreuz und kreischte: „Die Pestilenz! Alle Heiligen! Die Pestilenz ist im Hause! Rühr ihn nicht an!" Damit rannte er aus der Tür hinaus in die von Fackelschein durchzuckte Nacht. Timm stand ratlos. Bei allem, was ihm dieser Apotheker angetan hatte, nun, wie er so am Boden lag, tat er ihm doch leid. Er starrte auf die fieberglühenden Schläfen, holte ein Tuch, feuchtete es mit kaltem Wasser und legte es dem Kranken auf die Stirn. Das schien ihm gut zu tun.
Und jetzt? Stehe ich hier zwischen Krügen und Flaschen, die alles enthalten, was Menschen gegen die Beschwernisse des Leibes entdeckt und erprobt haben, und kann ihm nicht helfen! Wie hat er seine Fiebermittel eingemischt? Liegt nicht noch Vorrat hier? Timm löste ein Pulver, versuchte es dem Apotheker einzuflößen, aber es gelang nicht. Da lief er hinaus, schloss sorgfältig die Tür, ging die Gasse entlang, bis er auf einen Stadtknecht traf, den fragte er nach der Wohnung des Doktor Fabricius.
Der Arzt schlief angekleidet auf einer Bank, auch ihm waren jetzt sicherlich die Nächte kurz. Kommen Sie schnell, Herr Magister", sagte Timm. „Dem Herrn Wapenhans geht es nicht gut." Der Arzt stülpte sich eine Maske über, die einen langen Schnabel trug, griff einen Kasten, sie eilten durch die Gassen. Vor der Apotheke warteten schon wieder Menschen, sie wichen scheu zurück, als sie die Schnabelmaske kommen sahen. Timm öffnete die Tür. Doktor Fabricius beugte sich über den noch immer am Boden liegenden Apotheker, dann erhob er sich, schüttelte ernst den Vogelkopf, trat hinaus und malte mit Kreide ein großes Kreuz an die Tür. Die Leute draußen flohen. Timm war allein mit einem Toten.

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