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Der folgende Text stammt aus dem Jugendbuch „Wir waren dabei" von Hans Peter Richter. Der Autor, Jahrgang 1925, berichtet, wie drei Freunde, Heinz, Günther und der Erzähler, die Zeit von 1933 bis 1943 gemeinsam erlebten.
Ich putzte meinen neuen Dolch. Dadurch trat das auf der Klinge eingeätzte „Blut und Ehre" deutlich hervor. Auch das in den schwarzen Griff eingelassene HJ-Abzeichen brachte ich zum Glänzen. Die anderen unterhielten sich leise. Auf dem Platz neben Heinz saß Günther. Er schob an seiner neuen rot-weiß-roten Armbinde herum. Unter der Armbinde konnte man bei ihm noch den helleren Fleck erkennen, auf dem früher die Siegrune1 gesessen hatte. Ärgerlich zerrte Günther die Binde zurecht. „Die musst du mit drei Stichen festheften", empfahl ihm Heinz, „sonst rutscht sie dir immer wieder runter, oder das Hakenkreuz dreht sich nach innen." Günther nickte. „Das kann meine Mutter tun. Sie muss mir auch noch die Knöpfe an den Schulterklappen annähen." Neugierig zog Heinz an Günthers Schulterklappen. „Womit hast du sie jetzt festgemacht?" fragte er. „Mit Sicherheitsnadeln", antwortete Günther. Da öffnete sich die Tür. Erwartungsvoll schauten wir auf und schwiegen. Herein schwebte eine Wolke von Duft. Erstaunt schnupperten wir. Hinter der Wolke trippelte ein blonder Scharführer herein. Kölnisch Wasser erfüllte den Raum bis zum letzten Winkel. Geschmeidig, ein wenig tänzelnd, bewegte sich der Schafführer auf Heinz zu. Kein Haar lag schief, kein Stäubchen hing an seiner Uniform, seine Schuhe glänzten makellos. Er reichte Heinz seine Hand, fein wie eine Mädchenhand. Mit einer seltsam weichen Stimme begrüßte er ihn: „Du bist geschlossen mit deinem Jungzug zu uns in die Hitlerjugend gekommen. Ich freue mich, dich kennen zu lernen. Wir brauchen gute Führer in der Hitlerjugend." Heinz sagte nichts. Lächelnd überblickte der wohlriechende Scharführer unsere Schar. „Nette Jungen hast du mitgebracht." Mit kleinen Schritten ging er an der vordersten Reihe entlang. Jedem der dort Sitzenden strich er über das Haar und wiederholte: „Wirklich - nette Jungen seid ihr." Den Dicken fasste er unterm Kinn und hob seinen Kopf. Der Dicke musste dem Blick des Scharführers begegnen. „Wir wollen Freunde werden", klang es samten. Dann drehte sich der Scharführer einmal auf den Fußspitzen um sich selber. Wir saßen stumm. Fragend schauten wir einander an. Da ging wieder die Tür auf. Diesmal endlich trat unser neuer Gefolgschaftsführer ein. „Achtung!" Wir sprangen auf. Der Scharführer meldete. Der Gefolgschaftsführer würdigte Heinz keiner Begrüßung und keiner Anrede. Er dankte dem meldenden Scharführer und ließ uns sitzen. Unsere Augen wanderten von einem zum andern. Wir warteten. Der Gefolgschaftsführer räusperte sich. „In der Hitlerjugend wird sich für euch manches ändern", begann er ohne Einleitung, ohne Begrüßung. „Erstens, ihr seid fortan nicht mehr Pimpfe, sondern Hitlerjungen; ihr tragt den Namen des Führers. Zweitens, das verpflichtet euch mehr als bisher, immer und überall zu beweisen, wozu der Führer euch ausersehen hat. Alle Kindereien hören auf. Drittens, als Aufgabe der HJ betrachte ich, euch auf euren zukünftigen Wehrdienst vorzubereiten. Mit der Rückgewinnung der Ostmark, des Sudetenlandes, des Memellandes und der Auflösung der Tschechoslowakei ist die Schaffung des Großdeutschen Reiches und die Neuordnung Europas nicht abgeschlossen. Viertens, um den gegebenen Auftrag ordnungsgemäß erfüllen zu können, ist es notwendig, euch erfahrene Führer zu geben. Erst die Bewährung im Dienst beweist, ob frühere Führer unter euch weiterverwendet werden können. Fünftens, die Zusammensetzung der HJ aus Berufstätigen, Lehrlingen und Schülern erfordert andere Dienstzeiten. Der HJ-Dienst liegt hauptsächlich an den Abenden und an den Sonntagen. Sechstens, die Sonntage gehören dem HJ-Dienst, nicht dem Kirchgang. Ihr seid alt genug, bürgerliche Vorurteile abzulegen. Siebtens, ich erwarte von euch unbedingte Treue zum Führer. Die Feinde des Führers sind auch eure Feinde, ob sie nun Juden, Bolschewiken, Pfaffen oder wie sonst heißen mögen. Achtens, ich fordere von euch rückhaltlosen Einsatz für das Gedankengut des Nationalsozialismus. Was der Führer sagt, ist Gebot und Offenbarung. Neuntens, ich verlange von euch, dass ihr bereit seid, Blut und Leben für Führer, Volk und Vaterland hinzugeben. Hitlerjunge sein heißt Held sein. Zehntens, hundertstens und tausendstens: Gehorsam, Gehorsam, bedingungslosen Gehorsam."
„Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren. Deutschland, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehe. Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren. Ist das Ziel auch noch so hoch, Jugend zwingt es doch. Unsre Fahne flattert uns voran, in die Zukunft ziehn wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot. Unsre Fahne flattert uns voran. Unsre Fahne ist die neue Zeit. Unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit. Ja, die Fahne ist mehr als der Tod."
Unser erster Dienst in der Hitlerjugend war beendet. Auf dem Heimweg sagte ich: „Mir gefüllt es nicht bei der Hitlerjugend." „Mir auch nicht!" stimmte Günther zu, ohne sich zu bedenken, „nein, mir auch nicht!" Nachdenklich schritt Heinz zwischen uns. Er blickte starr wie damals in der Küche bei Günthers Vater. Nach einer langen Pause meinte er leise und ohne uns anzuschauen: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen."
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