Literaturunterricht

Ohne Vorurteile (Erzählung von Ernst A. Ekker) - Teil 1

Heute ist es endlich so weit. Die neue Kindergärtnerin wird kommen. Spätestens zu Mittag wird sie hier sein, hat sie geschrieben. Friedl Weber heißt sie; und Hanna, die Leiterin des Kindergartens, ist schon gespannt, wie sich die Neue einarbeiten wird. Jung ist sie noch, denkt sie. Anfang zwanzig. Das Abschlusszeugnis ist besser als mein eigenes seinerzeit ... Und immerhin hat sie schon fast ein Jahr Praxis hinter sich, wenn auch „bloß" in einem Schülerhort, in Deutschland.
Vor zwei Monaten hat Hanna eine Annonce in mehreren österreichischen Zeitungen aufgegeben:

Beim Verfassen der Annonce haben die Kinder geholfen. Das mit den Skipisten wollten sie unbedingt drinhaben. „Sonst kommt eine, die nicht Ski fahren kann, und dann dürfen wir auch nicht oder nur ganz selten", hat Gerhard gemeint.
Sie selbst hatte kein gutes Gefühl dabei. Schließlich waren die Skipisten daran schuld, dass die Annonce aufgegeben werden musste: Ihre junge Mitarbeiterin Ingrid hatte in diesem Winter einen deutschen Skiläufer kennen gelernt, einen Gast. Noch vor Ostern haben sie geheiratet und Ingrid ist nach Deutschland gezogen.
Hanna dachte damals, sie werde bis zu den Sommerferien den Kindergarten auch allein weiterführen können. Bis vor drei Jahren hatte sie schließlich alles allein gemacht! Mehr als zwanzig Jahre lang! Kindergärtnerin ist sie immer mit Leib und Seele gewesen. Ihr Mann war oft eifersüchtig auf die „fremden Kinder", die er aber alle gut kannte, weil sie aus dem Dorf und aus der Umgebung kamen. „Du machst mehr Überstunden, als erlaubt sind. Und bezahlt kriegst du sie auch nicht!" Hanna hatte ihre Arbeitsstunden nie gezählt.
Aber mit der Freude allein ist's nicht getan. Sie war gesundheitlich nicht auf der Höhe, und wenn sie krank wurde, musste der Kindergarten geschlossen werden. Daher hatte man ihr vor drei Jahren eine zweite Kraft bewilligt. Und nun ist sie neugierig, wie die neue zweite Kraft sein wird.
„Wie schaut sie denn aus, die Tante Friedl?", fragen die Kinder. „Weiß ich doch auch nicht!", sagt Hanna. „Seid nicht so neugierig!" Kaum hatte Hanna - gemeinsam mit allen sechzehn Kindern - den Annoncenbrief zum Postamt getragen, begannen die Kinder zu fragen:

„Ist schon eine Antwort da?" An den folgenden Tagen fragten sie noch oft.
„Wir werden ganze Waschkörbe voll Post bekommen!", sagte Hanna. Marion und Rudi begannen gleich einen geflochtenen Korb, in dem Spielzeug lag, auszuräumen ... „Und dann werden wir gemeinsam aussuchen, wen wir hier einladen.
Aber am Ende der ersten Woche war noch immer kein Antwortbrief da. „Vielleicht hat die Zeitung unseren Text gar nicht gedruckt", meinte Alexandra.

zurück vorwärts